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Düstere Geheimnisse – Das Flüstern der Kiefern, Band 3 (TASCHENBUCH)

Düstere Geheimnisse – Das Flüstern der Kiefern, Band 3 (TASCHENBUCH)

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Ausgelaugt von der Doppelbelastung als alleinige Ordnungshüterin und zukünftige Besitzerin einer Frühstückspension, findet Jayne O’Shea Trost in den Tagebüchern ihrer Großmutter. Jeder Eintrag bringt sie der Vergangenheit ihrer Familie ein Stück näher – und dem Grund, warum ihre Großeltern einst diesen abgeschiedenen Ort gewählt haben. Doch mit jeder Antwort kommen weitere düstere Geheimnisse ans Licht.

Wenn es Jayne gelingt, alle Puzzleteile richtig zusammenzusetzen, wird sie nicht nur die Wahrheit über den Tod ihrer Großmutter herausfinden, sondern hoffentlich auch den Mörder entlarven, der seit vier Jahrzehnten im Dorf sein Unwesen treibt.

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Kapitel 1
MEEKA LEGTE NEUGIERIG DEN KOPF SCHIEF und beobachtete mich prüfend, während ich mich auf den Rand des Piers setzte und die Füße in die Öffnung des Kajaks schob. Das Letzte, was ich wollte, war, mich wieder mühsam aus dem Boot wuchten zu müssen, nachdem ich es endlich hineingeschafft hatte. Also hielt ich erst einmal inne und ging gedanklich noch einmal meine Checkliste durch: wasserdichter Beutel mit Cargoshorts, T-Shirt und Uniformhemd – check. Wanderschuhe und Socken – check. Schlüssel für die Wache – check. Notizbuch und Bleistift, kleine Taschenlampe, Pfefferspray, Handschellen samt Schlüssel – check. Holster mit Glock – check.
Witzig – wenn jemand nicht wüsste, dass ich der Sheriff war, würde er sich vermutlich fragen, was zum Teufel ich mit dem ganzen Kram eigentlich vorhatte.
„Okay. Ich glaub, ich habe alles“, sagte ich zu meinem Hund. „Sollte ich tatsächlich noch etwas vergessen haben, darfst du zurückschwimmen und es holen.“
Sie gähnte nur und wandte sich ab – meine Drohung beeindruckte sie kein bisschen.
Mit den Füßen hielt ich das orange-gelbe Kajak fest gegen den Pfahl gedrückt und ließ mich dann mit zittrigen Armen auf den Sitz hinabgleiten. Ich sollte wirklich dringend wieder mit meinen Oberkörper-Workouts anfangen – Liegestützen und Trizeps-Dips, ganz besonders letztere. Mein Herz raste, denn ich war überzeugt, dass das Boot in dem Moment kentern würde, in dem ich meinen krampfhaften Klammergriff vom Rand des Piers löste. Und diese Angst war nicht unbegründet, immerhin war mir das schon passiert. Dreimal, um genau zu sein. Heute allerdings gab es keine Probleme. Ich saß fest auf dem Sitz, die Füße ruhten entspannt auf den Fußstützen. Insgeheim jubelte ich auf – ich hatte es tatsächlich geschafft!
Dann jedoch fiel mir auf, dass ich etwas vergessen hatte, das nicht auf meiner Sheriff-Checkliste stand.
„Meeka, könntest du mir das Paddel rüberschieben?“
Der kleine West-Highland-White-Terrier blickte von meinem ausgestreckten Finger zu dem Doppelpaddel, das gut fünfzehn Zentimeter außerhalb meiner Reichweite lag. Sie schnaubte leise – ein spöttisches Geräusch, als fragte sie sich, womit sie mich als Besitzerin verdient hatte. Dann drückte sie es mit der Nase Zentimeter für Zentimeter in meine Richtung, hielt jedoch urplötzlich inne, sah mich an und wedelte mit dem Schwanz, als hätte sie gerade etwas wirklich Beeindruckendes geleistet und eine Belohnung verdient.
„Braves Mädchen“, lobte ich sie. „Nur noch ein kleines Stück. So komme ich noch nicht ran.“
Sie wiederholte die Prozedur, bis ich endlich den Schaft zu fassen bekam.
„Geschafft! Wir sind eben ein wahres Dream-Team.“
„Du hättest auch einfach um Hilfe rufen können, Jayne.“
Ich drehte mich, um über meine rechte Schulter zu schauen, was das Kajak bedenklich nach links kippen ließ. Tripp Bennett – Freund, Geschäftspartner und der Mann, der sich mehr von unserer platonischen Beziehung erhoffte – stand knapp zehn Meter entfernt, die Arme vor seiner muskulösen Brust verschränkt.
„Wie lange stehst du schon da?“, fragte ich.
„Exakt hier?“ Er deutete auf den Boden vor seinen Füßen. „Nur ein paar Sekunden. Allerdings habe ich die gesamte Vorstellung von der anderen Seite des Bootshauses aus genossen.“
„Du hast mir also nachspioniert?“
„Nachspionieren ist wohl nicht das richtige Wort. Sagen wir es so: Ich habe lediglich ein Auge auf dich gehabt, für den Fall, dass du umkippst … wieder einmal.“
„Heute trage ich zumindest eine Schwimmweste.“ Demonstrativ zeigte ich auf besagte Schutzausrüstung.
„Tatsächlich“, staunte er. „Okay, dann habe ich womöglich doch ein wenig gespitzelt. Wie auch immer, du hast es heute mit deutlich weniger akrobatischen Verrenkungen ins Boot geschafft. Glückwunsch! Aber da ich jetzt schon mal hier bin … brauchst du sonst noch etwas, wobei ich dir helfen könnte?“
Er war wirklich eine Nervensäge. „Danke, nein, wir sind startklar.“
„Du willst heute tatsächlich auf diesem Weg zur Arbeit fahren?“
„Warum denn nicht? Immerhin leben wir im nördlichen Wisconsin. Da gibt es keine Garantie für schönes Wetter, also sollte man jeden warmen Tag ausnutzen. In spätestens sechs Monaten werde ich wahrscheinlich nur noch mit Langlaufskiern um die Bucht und durchs Dorf kommen.“ Kurz dachte ich über diese Idee nach. „Nein, wahrscheinlich eher mit Schneeschuhen, denn ich kann überhaupt nicht Skifahren. Und wenn es abwärts geht, würde ich mir wahrscheinlich den Hals brechen.“
Er schüttelte amüsiert den Kopf.
„Dir ist aber schon klar, dass es um besagte Jahreszeit dann eisig sein wird? Im besten Fall ein paar laue Grad unter null.“
„Und?“
„Ich habe selbst schon erlebt, dass du am Abend den Heizstrahler auf der Terrasse angemacht hast, nur weil die Temperatur unter zwanzig Grad fiel.“
Er kannte mich mittlerweile einfach zu gut. „Solltest du nicht längst bei der Arbeit sein?“
„In der Tat. Und die Mannschaft wird auch jede Sekunde eintreffen. Wenn du also nicht erpicht darauf bist, dass ein größeres Publikum dir beim Ablegen zusieht …“
Das war ich definitiv nicht. Also deutete ich Meeka an, zu mir ins Kajak zu kommen. Vorsichtig stellte sie ihre Vorderpfoten auf mein linkes Bein, sprang dann mit den Hinterpfoten über das rechte, und nachdem sie es sich dazwischen bequem gemacht hatte, kam Tripp heran und schob uns behutsam vom Pier weg.
„Viel Spaß bei der Arbeit“, sagte er, während er sich die schulterlangen blonden Locken aus dem Gesicht strich. „Ich hoffe für dich, es bleibt ruhig.“
Und so paddelte ich los. Sobald ich meinen Rhythmus gefunden hatte, stellte Meeka sich auf die Hinterbeine, stützte ihre Vorderpfoten an der Seitenwand des Kajaks ab und versuchte, nach den aufspritzenden Wassertropfen zu schnappen.
Alles, was mit dem See zu tun hatte, war der perfekte Start in den Tag. Manchmal bedeutete das, einfach mit einer Tasse Kaffee auf dem Sonnendeck zu stehen und den Frühaufstehern unter den Anglern zuzusehen, die versuchten, ihr Fanglimit zu erreichen, bevor die Touristen mit ihren Schnellbooten, Jetskis und Wakeboards das Gewässer unsicher machten. Oder aber, wie heute, selbst loszupaddeln.
Die Landzunge, die mein Haus, die Garage und das Bootshaus beherbergte, ragte in den See und bildete eine halbrunde Bucht zwischen ihr und dem Dorf. Direkt gegenüber auf der anderen Seite markierte die Marina den Zugang zum Dorfplatz. Die drei- bis vierhundert Meter zum anderen Ufer waren eigentlich eine Strecke, die ich problemlos in wenigen Minuten zurücklegen konnte, aber heute war ich irgendwie noch nicht bereit für die Arbeit.
So fuhr ich also anstatt nach Osten erst einmal nach Süden, und Meeka warf mir einen irritierten Blick zu.
„Wir sind heute echt früh dran“, erklärte ich ihr. „Lass uns einfach noch eine kleine zusätzliche Runde drehen.“
Daraufhin wedelte sie mit dem Schwanz und schien von diesem Umweg ebenfalls äußerst angetan zu sein.
Ein Stück entfernt entdeckte ich ein halbes Dutzend Angler, die gerade dabei waren, einzufahren. Unter ihnen war auch ein alter Mann mit Kinnbart, der mich irgendwie an meinen Grandpa erinnerte, und der normalerweise am Morgen zu den Ersten gehörte, die zurückkamen.
„Wieso bist du denn heute ebenfalls noch auf dem Wasser?“, rief ich zu ihm hinüber. „Hast du etwas gefangen?“
„Und ob“, brüllte er zurück. „Ich habe meine Quote schon vor fünfzehn Minuten erfüllt. Bin einfach nur noch eine Weile hier sitzen geblieben und habe die Ruhe auf mich wirken lassen.“
„Das ist eine weise Entscheidung. Heute soll’s ja wieder ziemlich schwül werden.“
„Absolut. Der Sommer dieses Jahr ist einfach extrem. Einen schönen Tag noch, Sheriff.“
Nach diesem Gruß und einem letzten Salut steuerte er auf das Ufer zu. Als er jedoch mit seinem von einem Außenbordmotor angetriebenen Boot an mir vorbeifuhr, geriet mein Kajak ins Schaukeln, was Meeka so sehr aufregte, dass sie den Kopf über das Dollbord hängte und nach den Wellen schnappte. Mir war klar, wie das enden würde.
„Untersteh dich!“, fuhr ich sie an. „Du wirst sonst wieder den ganzen Tag nach nassem Hund riechen.“
Ich hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sie auch schon ins Wasser gesprungen war und in großen, gemütlichen Kreisen um mich herumpaddelte.
Wir entfernten uns noch etwas fünfzig Meter weiter vom Dorf und folgten der Küstenlinie zu einer kleinen Bucht, als ich jemanden schreien hörte.
„Hallo? Wo sind Sie?“, rief ich, während ich die Wasseroberfläche links und rechts von mir absuchte. „Ich kann Sie hören, aber nicht sehen.“
„Hier.“ Irgendjemand, offensichtlich ein Mann, schlug heftig mit den Armen um sich. „Bitte helfen Sie mir!“
Mein Hund schwamm bereits in die Richtung, aus der die Schreie ertönten, drehte sich kurz in meine Richtung und bellte – ein klares Signal, dass ich ihr folgen sollte.
„Meeka, komm zurück“, forderte ich sie auf. Ich wollte nicht, dass sie dem Kerl zu nahe kam. In seiner Panik würde er sich vermutlich an allem festklammern, von dem er sich Rettung versprach, und das sollte nicht unbedingt meine Kleine sein.
Sie kam zu mir zurückgepaddelt, blieb aber dicht neben meinem Kajak auf der linken Seite. Der Mann schlug erneut panisch um sich, und seine Rufe wurden deutlich schriller und verzweifelter. Offensichtlich steckte er in einem dichten Gewirr aus Wasserpflanzen fest, nicht weit von uns entfernt. Ich packte Meekas Geschirr, zog sie ins Kajak und setzte sie vorsichtig in die Mulde zwischen meinen Beinen.
„Runter!“, befahl ich ihr, und sie legte sich sofort flach auf den Boden. „Und bleib bitte auch unten. Keine Bewegung. Das könnte jetzt ein wenig wackelig werden.“
Sie erstarrte auf der Stelle und glich einer kleinen Westie-Statue. Braves Mädchen.
Ich paddelte so nah heran, dass ich beruhigend auf den Mann einreden konnte, aber noch immer weit genug weg war, damit er nicht nach dem Boot greifen und es zum Kentern bringen konnte. Dann zog ich meine Schwimmweste aus. „Können Sie mich hören?“
„Bitte, helfen Sie mir!”
„Moment, ich werfe Ihnen meine Rettungsweste zu.“
„Machen Sie schnell!“
Die Weste landete gute fünfzig Zentimeter von ihm entfernt im Wasser – zu weit, als dass er sie hätte erreichen können. Also schob ich sie mit dem Ruder näher an ihn heran.
„Sie befindet sich direkt vor Ihnen. Greifen Sie danach, halten Sie sie sich vor die Brust und versuchen Sie, erst einmal zu Atem zu kommen.“
Just in diesem Moment verschwand sein Kopf unter der Wasseroberfläche, und einen Moment lang befürchtete ich, er könnte ertrunken sein. Dann jedoch tauchte er wieder auf, klammerte sich an die rettende Ausrüstung und schnappte keuchend nach Luft.
„Sind Sie okay?”, fragte ich.
„Ja, im Moment geht es, aber ich stecke fest. Ich habe mich mit den Beinen in den Wasserpflanzen verfangen und kann mich nicht befreien.“
„Ich habe ein Seil bei mir. Moment … Ich werfe es Ihnen zu und versuche, Sie mit dem Kajak rauszuziehen. Haben Sie das soweit verstanden?“
„Ja, habe ich.“
Er klang jetzt deutlich ruhiger, nicht mehr so panisch, aber absolut erschöpft.
Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen drehte ich mich um und löste die Spanngurte, die den Deckel des Gepäckfachs sicherten. Darin befand sich ein kleines Notfallpaket, das vermutlich Grandma oder Grandpa irgendwann vor langer Zeit hineingelegt hatten. Ich zog die Rolle mit dem Nylonseil heraus, ließ die kleine Tasche wieder in den Stauraum gleiten und schloss den Deckel. Dann band ich das Ende des Seils an dessen Griff fest und drehte mich erneut zu dem Mann um. Der hatte es mittlerweile geschafft, sich die Rettungsweste überzuziehen. Zwar röchelte er nach wie vor heftig, trieb aber nun zumindest stabil im Wasser. Gut, das machte die Sache erheblich einfacher.
Ich warf ihm das lose Ende der Nylonschnur zu. „Wickeln Sie sich die ein paar Mal ums Handgelenk und halten Sie sie gut fest.“
Er tat, wie ihm geheißen, schloss die Faust fest darum und gab mir mit einem Daumen nach oben stumm zu verstehen, dass er bereit war.
„Okay“, sagte ich ruhig. „Dann entspannen Sie sich und überlassen Sie den Rest mir. Ich paddle langsam los – vielleicht reicht das schon, um Sie aus dem Tang zu befreien. Nicht strampeln, verstanden? Wenn Sie den Eindruck bekommen, das Zeug schlingt sich nur noch fester um Ihre Beine, sagen Sie mir sofort Bescheid, dann probiere ich es mit mehr Kraft. Aber auf keinen Fall wild um sich treten, sonst verheddern Sie sich nur noch mehr. Bereit?“
„Bereit.“
Mit kräftigen, aber ruhigen Ruderschlägen steuerte ich auf die Mitte des Sees zu. Die Pflanzen wucherten nur in dem flacheren Bereich rund um das Ufer, weil dort das Wasser wärmer war. Sobald wir aus der Bucht und damit aus dem Dickicht heraus waren, würde ich ihn hinüber zur Marina ziehen. Deren Besitzer, Gil, stellte täglich ein Team zusammen, das die Bucht durchkämmte und das Kraut entfernte, damit es sich nicht in den Bootsschrauben verfing.
Nur Augenblicke später rief der Mann zu mir herüber, dass seine Beine wieder frei wären.
„Sehen Sie das Pontonboot dort drüben?“ Er deutete auf eine Stelle in der Nähe des öffentlichen Badebereichs.
„Ja, tue ich.“
„Darauf befinden sich meine Freunde. Könnten Sie mich zu denen bringen?“
Sofort schossen mir etliche Fragen durch den Kopf. Diese Leute waren seine Freunde? Wussten sie überhaupt, wie weit er sich von ihnen entfernt hatte? Wenn ja, hatte jemand von ihnen nach ihm gesucht? Und falls nicht, was für Freunde waren das denn bitte?
Es brauchte noch etwa zwei Minuten gleichmäßigen Paddelns, bis wir das Ponton erreicht hatten. Als wir nur noch etwa dreißig oder vierzig Meter entfernt waren, entdeckte uns eine der Frauen an Bord.
„Barry?“, rief sie. „Oh, Gott sei Dank!“
Die übrigen acht oder zehn Leute, die sich auf dem Boot befanden, versammelten sich um sie und schrien und winkten ebenfalls zu uns herüber.
Ich stoppte am Heck und klammerte mich an die Schwimmplattform des Pontons, um das Kajak ruhig zu halten. Einer der Männer zog Barry nach oben und befreite ihn von dem Nylonseil. Dieser ließ sich erschöpft auf den Rücken fallen, die Arme schlaff an den Seiten, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig. Ich gab ihm einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen, und sprach ihn dann an.
„Barry?“
Er schaute zu mir herüber, und ich deutete auf die Rettungsweste.
„Ach richtig, die wollen Sie sicher wiederhaben.“ Er setzte sich auf, ließ die Beine ins Wasser hängen, öffnete sie und reichte sie mir.
Kaum war ich selbst wieder hineingeschlüpft, fühlte ich mich deutlich sicherer. Ich fragte ihn, ob er okay sei.
„Jetzt schon. Ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken, dass Sie mir das Leben gerettet haben. Ohne Ihre Hilfe hätte ich mich nicht aus diesem Tang befreien können. Je mehr ich mich wehrte, desto fester wickelte sich das Zeug um meine Beine. Wenn Sie nicht gekommen wären, wäre ich mit Sicherheit ertrunken.“
Ein paar der dunklen, schleimigen Pflanzenteile hingen noch an ihm, und plötzlich erinnerte ich mich an eine Vision von Lily Grace, der jüngsten Wahrsagerin des Dorfes. Sie hatte eine mit schwarzem Zeug bedeckte Frau im Wasser gesehen. Okay, Barry war zwar ganz offensichtlich ein Mann, aber immerhin klebte Tang an ihm. Lily Graces Visionen trafen meist den Kern, nur die Details stimmten nicht immer. Dennoch könnte es sich in seinem Fall um ihre Vorhersehung gehandelt haben.
„Ich bin froh, dass ich rechtzeitig zur Stelle war. Und Sie sind sicher soweit in Ordnung?“
Er nickte hustend. „Ja. Hab natürlich einiges an Wasser geschluckt und bin immer noch etwas angeschlagen, aber ich denke, das wird schon wieder.“
„In Whispering Pines gibt’s so etwas wie eine kleine Klinik“, sagte ich. „Sie nennt sich Heilzentrum. Wenn Sie vom öffentlichen Strand aus rüber auf die andere Seite schauen, sehen Sie die Bücherei, und direkt davor beginnt der Feenpfad. Dem einfach folgen, der Weg dorthin ist gut ausgeschildert.“
„Danke für den Tipp, aber mir geht’s soweit ganz gut.“
Ich deutete ihm an, sich näher zu mir herunterzubeugen. „Sie sind mit diesen Leuten hier unterwegs?“
„Ja. Wir haben zwei Cottages für sechs Wochen gemietet. Seit Mitte Juni kommt und geht jeder, wie’s ihm passt.“ Er wies hinüber zur Nordseite des Sees, wo sich diverse kleine Hüttchen zwischen den Bäumen versteckten. „Das ist das erste Wochenende, an dem wir alle gleichzeitig hier sind.“
„Wussten die anderen, dass Sie schwimmen gegangen sind?“, fragte ich.
„Wir waren die ganze Nacht unterwegs – feiern auf dem Partyfloß, sozusagen. Gerade, als wir uns langsam auf den Rückweg machen wollten, um ein paar Stunden Schlaf nachzuholen, hatte Angel die glorreiche Idee, ein Wettschwimmen zu veranstalten.“
„Ein Wettschwimmen?” Nach einer durchzechten Nacht – und vermutlich noch ziemlich alkoholisiert?
„Ich sage ja nicht, dass es sonderlich clever war, aber so lautete nun mal der Plan. Drei von uns wollten bis zu dieser Stelle da drüben schwimmen – kurz vor der Bucht, wo Sie mich gefunden haben –, und dann wieder zurück zum Ponton.“ Er zuckte verlegen mit den Schultern. „Ich habe einfach nicht auf die Entfernung geachtet, wollte um jeden Preis gewinnen. Von daher bin ich so schnell geschwommen, wie ich konnte. Und als ich dann kehrtmachen wollte, hing ich mit den Füßen in diesen blöden Wasserpflanzen fest.“
„Wollen Sie damit sagen, Sie sind zu dritt losgeschwommen, nur zwei sind zurückgekommen, und keiner hat sich gefragt, wo Sie abgeblieben sind?“
Ob dieser Erkenntnis erblasste er sichtlich, fing sich jedoch gleich wieder. „So lange war ich nun auch wieder nicht weg. Ich weiß, was Sie denken, aber Sie irren sich. Die hätten nie zugelassen, dass mir etwas zustößt.“
„Aber genau das ist passiert. Sie haben es selbst gesagt – wäre ich nicht zufällig vorbeigekommen, wären Sie womöglich ertrunken.“
Barry wich meinem Blick aus.
Meine Anschuldigung verursachte ihm sichtlich Unbehagen, denn er zog ohne ein weiteres Wort die Beine aus dem Wasser und machte sich daran, zu seinen Leuten zurückzukehren.
Ich streckte ihm die Hand hin. „Ich bin übrigens Sheriff Jayne O’Shea. Es freut mich, dass alles glimpflich ausgegangen ist. Sollten Sie noch etwas brauchen, finden Sie mich auf dem Revier.“
Er zögerte einen Moment, dann nickte er, nahm meine Hand und bedankte sich ein weiteres Mal aufrichtig dafür, dass ich ihm das Leben gerettet hatte.
Während ich in Richtung Marina davonpaddelte, ließ mich ein Gedanke nicht los: War da mehr zwischen Barry und seinen sogenannten Freunden, als es auf den ersten Blick erschien? Warum dieses plötzliche Wettschwimmen? Von dort, wo das Floß geankert hatte, konnte niemand sehen, was in der Bucht vor sich ging. Hatte überhaupt jemand nach ihm gesucht?
Kurz bevor ich das Ufer erreichte, nahm ich mir fest vor, herauszufinden, in welchen Cottages Barry und die übrigen jungen Leute untergebracht waren, und heute Abend, bevor ich nach Hause ging, nochmals kurz bei ihm vorbeizuschauen. Dann schüttelte ich innerlich den Kopf über mich selbst. Ich sollte wirklich aufhören, hinter jeder Kleinigkeit gleich einen finsteren Plan zu vermuten. Nicht jedes Unglück war sofort ein Mordversuch.

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